Klappentext

Das Leben Otto Stockhausens war nur kurz, aber dynamisch. Mit 29 Jahren bekam er 1907 die Bauleitung für den (alten) Hamburger Elbtunnel übertragen, der in vier Jahren Bauzeit fertiggestellt wurde und noch heute als ein Meisterstück der Ingenieurbaukunst gilt. Daneben leitete Stockhausen den Christlichen Verein Junger Männer, der unter seiner Leitung in der Stadt Hamburg zum größten Anbieter von christlicher Jugend- und Junge-Erwachsenen-Arbeit wurde. Darüber hinaus wurde er mit der Einrichtung einer Ferienkolonie zu einem Pionier der Freizeitpädagogik – noch vor den Pfadfindern. Seine Teilnahme am Ersten Weltkrieg setzte seinem längst noch nicht vollendeten Leben schon in den ersten Kriegswochen ein abruptes Ende. Die vorliegende Biographie erinnert an diesen ungewöhnlichen Baumeister, Freizeitpädagogen und Christen.

Rezension von Uwe Gleßmer (Zeitschrift des Vereins für Hamburgische Geschichte, Band 104, 2018, S. 303-306)

Jürgen Wehrs: Otto Stockhausen. Steinmann Verlag (Rosengarten bei Hamburg) 2016, 132 Seiten Paperback € 18,80. [ISBN 978-3-927043-69-5]
Dass es zur Person des leitenden Ingenieurs beim Bau des Hamburger Elbtunnels nun auch eine umfangreiche biografische Schilderung gibt, sorgt nach der Kurzdarstellung der Vita, die 2006 von Volker Reißmann für die Hamburgische Biografie Bd. 3 geliefert wurde [s. ZHG 93 (2007) S. 220], für einen beträchtlichen Erkenntnisgewinn. U.a. die allgemeinverständliche Darstellung der komplexen technischen Probleme, die für den Elbtunnelbau zu lösen waren, macht das Buch für Nicht-Techniker lesenswert. Es bildet so eine willkommene Ergänzung zu der in anderer Weise durch gute Bebilderung und sehr detaillierte ingenieurtechnische Beschreibung, wie sie etwa Sven Bardua für die herausgebende Bundesingenieurkammer verfasst hat: „Der Alte Elbtunnel Hamburg [Historische Wahrzeichen der Ingenieurkunst Bd. 8]“ Berlin 2011. – Beim 100-jährigen Jubiläum der Fertigstellung des Elbtunnels 2011 jedoch „…stand sein Baumeister eher am Rande der Aufmerksamkeit“, wie Wehrs in der Einführung schreibt. So ist ihm an der Klärung der historischen Kontexte gelegen, in denen Otto Stockhausen zu dem geworden ist, was er als Person darstellte und in seinem durch den Ersten Weltkrieg viel zu kurzem Leben 1878-1914 an Spuren hinterlassen hat.
In den sieben thematischen Kapiteln und einer abschließenden Bilanz geht es Wehrs darum, den Entwicklungsweg nachzuzeichnen: „1. Kindheit und Jugend“ (8-17) lassen in doppelter Hinsicht Prägungen bereits erkennen, die in späteren Jahren zur weiteren Wirkung gekommen sind. So wurden zum einen durch die familiäre Situation am Wohnort in den mittelalterlichen Burganlagen des Örtchens Schlitz/Odenwald besondere Rahmenbedingungen gegeben. Sie ermöglichten es, beim Bau einer eigenen Jugend-Burg mit anderen Heranwachsenden, konstruierende Techniken und Gemeinschaftsarbeit früh zu experimentieren. Zum anderen war die Zeit seines Gymnasiumbesuchs in Darmstadt zwar nur insofern prägend, als dass sie ihn später zu Reformbestrebungen mit anschaulicherer Lehrmethodik gebracht hat. Für ihn positiv prägend war dagegen ein religiöses Erwachen „zu bewusstem, persönlichen Glaubensleben“ (14), wie es der Gewährsmann Ernst Serchinger (1880-1958) beschrieben hat, der die Begegnungen in einem evangelischen Jungmännerverein und im Schülerbibelkreis als Hintergrund benannt hatte. „2. Studienjahre“ (18-23) begannen die ersten drei Semester mit dem Sommer 1896 ebenfalls in Darmstadt, bevor Stockhausen ab Winter 1897 nach Berlin wechselte und in der Fachrichtung Bauingenieurwesen sein Studium fortsetzte. Dort wurde das mit Paul Berger geteilte Zimmer „schnell zum Treffpunkt mit anderen Studenten … und bekam bald den Titel ‚Hotel Metropol‘.“ (18) Zum größten Teil gehörten die Besucher der Deutschen Christlichen Studentenvereinigung (DCSV) an, in der sich viele Ehemalige der Schülerbibelkreise fanden und so einem gemeinsamen Bezugsrahmen in ihrer Frömmigkeitstradition während des Studiums treu blieben. Über sein Engagement im Vorstand des DCSV kam Stockhausen auch mit dem Berliner CVJM in Kontakt. Was den wissenschaftlichen Teil der Berliner Studienjahre prägend werden ließ, ist eine Wettbewerbsarbeit, die ihm universitätsöffentliches Lob eintrug sowie Verstäkung einer besonderen Gewogenheit des aus Hamburg stammenden Prof. Johann Friedrich Bubendey, dem späteren Hamburger Wasserbaudirektor und Mentor. Die abschließende ‚Bauführerprüfung‘ bestand Stockhausen mit Auszeichnung im Mai 1901. Um Pfingsten (also ca. 26.5.1901) führte ihn eine Studienreise nach Hamburg, für dessen Hafen er durch seinen Studienschwerpunkt Wasserbau besonderes Interesse mitbrachte und wo er ab 1. Okt. 1901 in den Staatsdienst eintreten konnte (22).
„3. Der Elbtunnel“ (24-40) ist der Abschnitt, der den beruflichen Werdegang markiert: Nach einer relativ kurzen Phase an Konstruktions-Projekten wurde Stockhausen 1903 in Cuxhaven „kommissarisch mit der Verwaltung einer Baumeisterstelle betraut“ (25), aus der er dann nach 1 ½ Jahren auch zum Baumeister ernannt und in dieser Funktion wieder nach Hamburg versetzt wurde. Hier lernte er die Planungen seines Chefs, des Baurats Ludwig Wendemuth, kennen, der seit längerem mit den Fragen der Elbquerung befasst war. Nach der Bürgerschafts-Entscheidung für das geplante Tunnelprojekt 1906 wurde Stockhausen „Mitte 1907 … mit der Leitung des Tunnelbaus beauftragt.“ (28) Zu Baubeginn konnte er noch mit einer Delegation nach Amerika und England reisen, um von dortigen Erfahrungen zu profitieren.
Die über die nächsten Jahre bis zur Einweihung 1911 sich erstreckenden Arbeiten werden von Wehrs anschaulich und gut nachvollziehbar auch mit ihren Problemen (sowie dem bei Stockhausen ausgeprägten Gottvertrauen) geschildert, die hier nicht im einzelnen referiert werden sollen. Parallel zu seinem umfangreichen hauptberuflichen Arbeitspensum konnte Stockhausen seine in den nächsten Kapiteln behandelten Aktivitäten erfolgreich weiterführen. Sie betreffen den Bereich „4. Allgemeines Vorlesungswesen“ (41-46) sowie in zwei Kapiteln sein christliches Engagement als Vorstandsmitglied bzw. Vorsitzender „5. Im CVJM“ (47-64) sowie „6. Die Ferienkolonie Schäferhof“ (65-83). Während es einerseits im Abschnitt 4 um Erwachsenenbildung auf hohem Niveau primär für Akademiker geht, die die Möglichkeiten des „Allgemeinen Vorlesungswesens“ nutzten (erst in den Räumen des akademischen Gymnasiums und ab 1909 im neuen Vorlesungsgebäude am Dammtor), sind die in Abschnitt 5 und 6 ausführlich beschriebenen Aktivitäten auf Jugendbildung für alle Bevölkerungsschichten gerichtet. Die Dokumentation dieser beiden letzten Bereiche machen auch das Besondere des Buches von Wehrs aus. Als Kenner der Geschichte des CVJM kann er detailliert die Beteiligung und Leitung dieser wichtigen überkonfessionellen Organisation mit ihrer Vorgeschichte in den Jünglingsvereinen sowie ihren speziellen Hamburger Kontexten darstellen. Unter Stockhausens Leitung konnte die Arbeit wesentlich (auch räumlich) ausgebaut werden. Aber es ging ihm keinesfalls nur um technische oder administrative Dinge, wie aufgrund seines Berufes vermutet werden könnte. (55) Sondern es gelingt Wehrs, das vom CVJM für verschiedene Adressatenkreise z.T. zwar differenzierte Veranstaltungsangebot als trotzdem im Verein insgesamt erlebbare Zusammengehörigkeit (61) nachvollziehbar zu machen, die Stockhausen am Herzen lag.
„6. Die Ferienkolonie Schäferhof“ bildet für diesen Aspekt einen ganz besonderen Integrationspunkt. Mit einer an Jungen zwischen 14 bis 17 Jahren gerichteten (zuerst) einwöchigen sommerlichen Erlebniszeit, an der Teilnehmer aus verschiedenen CVJM-Gruppen und auch die Schüler aus den ‚Bibelkreisen an höheren Schulen‘ (= BK) teilnehmen konnten, wurden ab 1902 ca. 120 (und später mehr) Jugendliche aller Schichten und Bildungsstände zusammengebracht. In einem von der Organisationsform her straff und militärisch-diszipliniert, jedoch gleichzeitig kameradschaftlich geführten Zusammenleben wurden Geländespiele durchgeführt, Lagerfeuer gemacht, gesungen, Bibelarbeiten und Andachten in einer Weise gehalten, die für Jungen dieser Altersgruppe in ihrem Nebeneinander insgesamt sehr attraktiv gewesen sein müssen. Stockhausen war hier gleichzeitig auch insofern technischer Experimentator, dass er erfolgreich erprobte, dass auch für deutsche Jungen das Schlafen in Zelten ohne Gesundheitsgefährdung funktionieren könnte – wie bei englischen boy scouts. Insgesamt schildert Wehrs, dass Stockhausen „in diesem Bereich der Freizeitpädagogik … ein Pionier“ (98) gewesen ist.
„7. Der Ernstfall“ (84-95), der im Ersten Weltkrieg den Oberleutnant der Reserve dazu brachte (wie auch zigtausend andere), „für das Vaterland ins Feld ziehen zu dürfen“ (83), bedeutete für den Ingenieur, in seinem Pionier-Bataillion voran am Westfeldzug teilzunehmen. Dort, an der Marne, fiel er bereits am 8.9.1914. (90) – Die beiden vorangehenden Sätze geben jedoch nur die rohen Daten wieder, die bei Wehrs ausführlich in den damaligen kaisertreu-patriotischen Kontext inklusive der ebenso gesinnten CVJM-Freunde sowie seines Schwiegervaters, Pastor Rudolf Bahnsen, gestellt werden. Trotz der Tragik des nur 36 Jahre währenden Lebens – Stockhasuen hinterließ eine junge Witwe und einen knapp zweijährigen Sohn – bleibt die Erinnerung an eine Persönlichkeit, die „sich großen Herausforderungen gestellt und sie nach Kräften und unter Einsatz seiner besonderen Begabungen gemeistert und sich dafür Anerkennung erworben“ hat. (92)
Als „8. Bilanz“ (96-100) kann Wehrs trotz „schwindender Erinnerungskultur“ (96) zusammenfassend u.a. für diese Anerkennung auch auf Benennungen von einem Schiff und einer Straße sowie auf zwei steinerne Gedenkorte (und ihre Fotos) verweisen: 1. die Kachel im Elbtunnel, die auf beiden Seiten des Durchstichs stilisiert Stockhausen und seine Verlobte darstellen soll, deren Eheschließung von den Brautleuten auf die Zeit nach der Fertigstellung des Bauwerks verschoben wurde. 2. Der Stein auf dem Friedhof des Schäferhofes, der „Ferienkinder 1902-1921 Otto Stockhausen zum Gedenken“ benennt und damit Wirkungen und Spuren markiert, die junge Menschen nachhaltig geprägt haben.
Die Kürze eines Inhaltsreferates erlaubt es kaum, den besonderen Stil der Darstellung von Wehrs und ihren hintergründigen Humor zu würdigen. Für Leser, die die Hamburgische Administration kennen, wird etwa eine Spitze sichtbar, wenn es um den Senat geht (24) oder mit tragischer Ironie die Weltgeschichte (46) als handelnde Person benannt wird. Insgesamt liest sich dieses Buch mit seinen meist kurzen Sätzen sehr flüssig, und könnte auch Schülern der höheren Jahrgangsstufen als „Geschichtslektüre“ in die Hand gegeben werden. Insofern kommt der Pädagoge in dem Autor nicht nur in seiner Wahrnehmung von Stockhausen als Pionier der Freizeitpädagogik zum Tragen. Die wenigen kleinen Korrekturen, die ein Lehrer an seinem Text anbringen würde, betreffen Jahreszahlen, die versehentlich wohl zur Zeit der Abfassung 2014 anstelle von 1914 hineingerutscht sind (45, 88, 89) bzw. Großschreibung, die vom Textverarbeitungssystem nach einem Abkürzungspunkt erzeugt wurde.
[Wie J. Wehrs freundlicherweise mitteilte, wird er bei einer in Vorbereitung befindlichen Arbeit über den Sohn Otto von Stockhausen (1912-1992), der als Jugendpastor in Schleswig-Holstein viele Personen der Nachkriegszeit mit gepägt hat, auch der Frage nach der Herkunft des Adelstitels nachgehen, für die z.T. auf eine Verleihung des erblichen Titels als Ehrung des Elbtunnelbauers verwiesen wird.]