Grenzgänger

Grenzgänger

Aus dem Vorwort

Als ich geboren wurde, hatte die Spannung zwischen zwei Welten von Großvater und Vater einen Höhepunkt erreicht. Unsere Familie war traditionell konfuzianisch. Acht Generationen lang bis zum Vater gab es in unserer Familie Lehrer des Konfuzianismus. Als Vater zum christlichen Glauben konvertierte, verbannte Großvater ihn aus der Familie, weil er das Christentum für eine Kolonialreligion hielt, obwohl sein Sohn einziger Nachkomme der Familie war.

Als ich als dritter Sohn in seine nun christliche Familie geboren wurde, aus der seit acht Generationen jeweils nur ein Sohn hervorgegangen war, nannte Großvater mich den Boten der Versöhnung und empfing mich zuerst, bevor er sich mit seinem verbannten Sohn versöhnte. Mein Schicksal prädestinierte mich lebenslang zum Versöhnungsboten und Grenzgänger.

Im 20. Lebensjahr erlebte ich die Befreiung vom japanischen Kolonialismus. Fünf Jahre danach machte ich den Koreakrieg durch, den man einen „Stellvertreterkrieg des Kalten Krieges“ nannte. Mit 30 kam ich nach Deutschland, das meine Wahlheimat geworden ist. So viele epochale und geographische Grenzen habe ich bereits in frühen Lebensjahren überschritten.

In der Zeit der Teilung des Landes nannte man in Deutschland diejenigen, die über die Zonengrenze verkehrten, Grenzgänger. Damit meinte man ideologisch bzw. politisch Verdächtige. Nicht wenige unter ihnen waren Theologen und Christen. Sie waren sehr stolz, „Verdächtige“ zu sein: denn sie waren sich bewusst, Brückenbauer des getrennten Landes zu sein. Vor solchen Christen in Deutschland hatte ich großen Respekt!

Von solchen Christen und Theologen wollte ich lernen. Darum kam ich nach Deutschland. In Korea gibt es seit 50 Jahren der Teilung des Landes keinen legalen Grenzgänger. Mir und meiner Lebensgefährtin gelang es erst 35 Jahre nach dem Verlassen des Nordens, die Hände meiner Landsleute in Nordkorea zu drücken. Die Versöhnung zwischen Nord und Süd ist sicher keine private Angelegenheit. Aber es musste jemand damit anfangen. Vor allem den Christen ist es geboten, den Sozialisten die Hände zu reichen.

Das Wagnis der Versöhnung mit Nordkorea wäre für mich undenkbar gewesen ohne meine Frau, die mich sowohl theologisch als auch tatkräftig begleitet hat.

Young Bin Lie

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