Besprechung

Die Selbsttötung von Robert Enke im Zustand tiefer Depression hat uns bewusst gemacht, wieviele Menschen in unserem Land an dieser Krankheit leiden. Es gibt Zeiten, in denen die Depression offen zutage tritt und auch von der Umgebung wahrgenommen werden kann. Es gibt Zeiten, in denen sie im Verborgenen ihren Einfluss auf den Kranken ausübt. Hin und wieder kommt es zu schweren Krisen, die den Kranken zu Handlungen bringt, die er später bereut oder anders einschätzt, wenn er dazu noch einmal Gelegenheit bekommt. Es ist wie eine Wanderung am Abgrund, die jederzeit zu einem Absturz führen kann. Deshalb ist es so wichtig, dass depressiv Kranke eine Möglichkeit finden, sich anzuvertrauen und sich zuzumuten. Einmal noch im Gespräch mit einem anderen Menschen die Erfahrung machen, dass es Sinn macht, zu bleiben und die Lebensaufgabe anzunehmen: sich zu erinnern, aufmerksam zu sein und noch etwas zu erwarten vom Leben. Erst wenn Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft einem ganz und gar genommen sind, kommt es zu der Erfahrung des Totseins mitten im Leben und der Bereitschaft, dem eigenen Leben, das gar kein Leben mehr ist, ein Ende zu setzen.

Die Autorin und Malerin Sigrid Schenkenberg hat diese Gratwanderung mehrfach erlebt in ihrem Leben. Aber sie hat auch die Erfahrung gemacht, dass Menschen da waren, denen sie sich anvertrauen und zumuten konnte. Sie haben sie ausgehalten: der Sohn und die Mutter, die Nachbarn und Freunde, die Mitarbeiterin des kirchlichen Besuchsdienstes und wer noch im Alltag in ihre Nähe kam. Sie entdeckte auf dem tiefsten Grund ihrer Verzweiflung etwas, was sie gern hatte und was sie tun konnte. Sie fing an zu malen, Kollagen zusammenzustellen, sich auszudrücken im Medium der Kunst. Sie wurde unterstützt von einer Kunsttherapeutin. Ehe sie die Sprache der Worte wiederfand, entdeckte sie die Sprache der Bilder. Uns so begann ein ganz langer, behutsamer, manchmal auch schwerer und quälender Aufstieg aus der Tiefe des Brunnens. Bilder entstanden, die Ausdruck der Krankheit und Verzweiflung waren, der verdunkelten Seele, aber auch Bilder der Schönheit und Ordnung, der Struktur und des feinen Humors. Im Zeichnen, Malen und Zusammenstellen von Bildelementen fing die eigene Seele an, wieder mehr und anderes zu sehen. Es war ein Heilungsvorgang, angeleitet von Herz und Hand. Die innerlich immer noch vorhandene Kraft zu leben wurde bestärkt und aktualisiert und an die Oberfläche gebracht. Ausdruck hat sie geübt, und das hat neuen Eindruck gemacht auf ihre Seele. Das Licht am Ende des Tunnels wurde sichtbar.

Sigrid Schenkenberg schreibt: „Kunst ist für mich Freiheit. Eine Freiheit, die gut für mich ist, die ein lange getragenes Korsett aufsprengt. Ich lasse keine Einengungen zu, will mich frei zwischen Techniken, Vorgehensweisen und Motiven bewegen. Ich genieße meine Kreativität, die sprudelt und mich bereichert.“

Sechs Jahre lang befand sich die Künstlerin ununterbrochen in einer tiefen Depression. Es grenzt an ein Wunder, dass sie diese lebensbedrohliche Krankheit überlebt hat. Sie hatte keine Hoffnung auf Besserung, ihr Leidensweg war besonders schwer und therapieresistent. Jahrelang bewegte sie sich von Klinik zu Klinik, versuchte die verschiedensten Therapien und musste ohne Interessen, Freuden und Energie leben. Im Herbst 2006 trat eine deutliche Verbesserung ihres Zustandes ein. Malen und Zeichnen sind wichtige Bestandteile ihres Lebens geworden, wenn sie auch immer wieder viel Kraft kosten. Neben Porträts, skurrilen Tieren und Abstraktem hat sie sich auch Bildern zugewandt, die vom Innersten berichten und die Erlebnisse und Gefühle in der Krankheit wiedergeben. Bilder, die manch einen Betrachter erschrecken lassen, aber auch eine Chance des Hinein-Denkens sein können.

Die Kunsttherapeutin Anneli Mattka spricht von einer ungeheuren Entwicklung eines künstlerischen Talents und mehr noch eines seelischen Heilungsprozesses. Frau Schenkenberg habe sich buchstäblich durch die Malerei am eigenen Schopfe aus einem sehr tiefen Sumpf herausgezogen. Mit der Veröffentlichung der sehr persönlichen Bilder und Gedichte in ihrem Buch „Verdunkelte Seele“ werde die Kunst zur Brücke für ein Verständnis der Erkrankung. Der Betrachter dürfe einen Einblick in die Seelenwelt eines Kranken nehmen. Kunst ist eine überzeugende Form der Kommunikation. Sie kann Menschen, die eigentlich für die Auseinandersetzung mit psychischen Erkrankungen nicht zugänglich sind, sehr direkt erreichen. Die Arbeiten von Sigrid Schenkenberg sind eine gute Möglichkeit, sich über die die Kunst dem Thema „Depression“ anzunähern.

Nun sucht Sigrid Schenkenberg, die ihre Bilder bislang u.a. im Lübecker Dom ausgestellt hat, weitere Ausstellungsorte .  Sie möchte gern andere psychisch kranke Menschen ansprechen, um ihnen das Gefühl zu vermitteln, dass nicht nur sie betroffen sind, und ihnen mit ihrer Geschichte Mut machen. Sie möchte auch  professionell Tätige dieses Bereiches ansprechen, um deren Einfühlungsvermögen weiter zu vertiefen. Und sie möchte die bisher von diesem Thema unbelastete Bevölkerung erreichen, um das Verständnis gegenüber psychisch Kranken zu fördern, um aufzuklären und aufzurütteln.

Es ist immer ein Gewinn, wenn es noch einmal zu einem Gespräch, zu einem guten Kontakt, zur Aufmunterung und Ermutigung kommt. Auch wenn wir nicht jede Krise überwinden können und immer Respekt behalten werden gegenüber denjenigen, die keinen anderen Weg mehr sehen, als sich in Gott oder dem großen Ganzen zu bergen.

Peter Godzik

Nordelbischer Beauftragter für die Begleitung Sterbender